Von „hinten“ nach „vorne“, geradegerichtet und in Anlehnung – ja klar!?!

Es gibt in der Reitszene wohl keine zwei Meinungen, dass ein Pferd von hinten nach vorne geritten werden muss. Aber wie sieht die Wirklichkeit in unseren Reitanlagen aus? Das Denken ist das eine, das realistische Wahrnehmen der eigenen Handlung aber doch etwas ganz anderes – oder hat sich bis hierher schon ein Leser persönlich angesprochen gefühlt? Wenn man die Stallkollegen beobachtet, fällt einem immer viel ein, was besser zu machen wäre. Wie die Frau da schief auf dem Pferd sitzt, wie das Kind da ohne Plan am Zügel zieht und wie grob der Kerl dahinten sein Pferd malträtiert – aber bei einem selbst sind es doch eher die äußeren Umstände …. meistens die „Unwilligkeit des Pferdes“ per se, der Wind, die Unruhe von außen an der Bande, die unhöflichen (weil unfähigen) Mitreiter in der Halle und überhaupt immer wieder das Pferd, dass einfach nicht macht was es soll – und dabei habe ich ihm die Möhrchen geschnipselt, die Hufe geölt, die Box gerichtet und den dritten Sattel in zwei Jahren anpassen lassen. Wenn es doch einfach etwas dankbarer wäre und diese Mühen zu würdigen wüsste, dann könnte es doch mindestens demütig beim Reiten den Kopf runternehmen – viel mehr erwarten wir doch gar nicht……..

"Dehnung??"

„Dehnung??“

Zurück zum eigentlichen Thema: Wir alle reiten unsere Pferde von hinten nach vorne – klar, keine Frage 🙂 ABER scheinbar ist zwingende Voraussetzung für jegliches Arbeiten mit unserem Partner Pferd die beiden großen „R“: Rübe Runter!!  Fast jeder ist bemüht, quasi als 1. Maßnahme durch Zäumung von Hand oder aber die aberwitzigsten Ausbindekonstruktionen an der Longe „RR“ zu bekommen. Ohne „RR“ kann ein Reiter nicht reiten, mit dem Pferd arbeiten, denken oder sein Pferd auch nur ein kleines bisschen lieb haben. Nur mit „RR“ ist das Pferd schön; nur mit „RR“ kann man vor den Mitreitern und leider auch dem Reitlehrer bestehen – der sagt einem schließlich vor dem Reitunterricht: “ So, alle die Pferde einmal durchstellen, Rübe runter, dann können wir anfangen.“ Es wird uns erklärt, dass man sein Pferd „erst mal kurz machen müsse, um es zu kontrollieren. Wenn es das erstmal begriffen habe, kann man es wieder lang machen“ oder “ … wenn das Pferd schön rund gemacht wird, kommt es durch Druck auf die Ohrspeicheldrüse zu einer Verbesserung der Kautätigkeit…..“

Lösen wir uns doch einfach mal von diesem vermeintlichen Ideal- Seitenbild des Pferdes, welches vielen Reitern wie eine erstrebenswerte Schablone vorschwebt und vergegenwärtigen wir uns, was wirklich Ziel unseres Tuns sein sollte: Ein harmonisches, respektvolles Miteinander (das heißt nicht Schmusipuh und Antiautorität!) und eine Formung des Pferdes in korrekter, gefühlvoller Anlehnung. Anlehnung ist eine weich federnde Verbindung zum Pferdemaul, die das Pferd sucht und der Reiter passiv gibt. Das Pferd soll sich mit langer Oberlinie aktiv und mit offenem Hals- Genickwinkel an das Gebiss herandehnen. So wird der Widerrist von der Streckmuskulatur des Halses nach oben gezogen und die Hinterhand kann bei schwingendem Rücken an den Schwerpunkt herantreten. Die Bewegungen werden schließlich länger und weicher. Es kostet einen Überwindung, mit Geduld auf diesem Moment zu warten und sich diesen Zustand immer wieder auf´s Neue zu erarbeiten. Und es braucht auch Selbstbewußtsein in zweierlei Hinsicht: Zum einen die skeptischen Blicken von außen zu ertragen und den ehrlichen, sprich selbstbewussten Blick in den Spiegel – Ach du Schreck, da habe ich schon wieder mit den Händen gezuppelt, die Hand zum Bauch gezogen, den Kopf meines Pferdes nach rechts/links gestellt, unwirsch mein Pferd auf die Zirkellinie rumgezergelt oder den natürlichen (weil in Unausbalanciertheit begründeten) Vorwärtsdrang meines Jungpferdes zurückgegeigt („der soll schließlich lernen nachzugeben……“).

"Harmonie??"

„Harmonie??“

Abgesehen davon, dass wir unseren Pferden durch „zu viel Hand“ immer wieder die Stimmung und die Lust zur Mitarbeit vermiesen, kommt es längerfristig zu körperlichen Blockaden, Muskelzu- und abbau an Stellen, die keiner braucht (Unterhals und „Kruppenknubbel“, fehlende Muskulatur vor und hinter dem Widerrist bei dicken Bäuchen trotz Futterreduktion sind keine Merkmale guten Reitens) und irgendwann ist es passiert: das Tickern, die Lahmheit, der Fesselträgerschaden vorne … Nein, nicht immer hat sich unser Pferd auf der Koppel vertreten, in der Box festgelegen oder im Halfter nach hinten geschmissen etc.pp. Wenn Pferde immer triebiger werden (das ist übrigens häufig die Gandhi-Variante von Widerstand;-)) oder wenn Pferde immer unwilliger und widersätzlicher werden und/oder wenn der Aufwand das Pferd zu „versammeln“ immer größer und aufwendiger wird, ist man nicht zwingend auf dem richtigen Weg. Reiten ist kein Kraftsport und Reiten ist kein Kampfsport. Der Widerstand unserer Pferde sollte uns wach machen, unser Tun kritisch zu überdenken.

Der Zügel ist nicht das Instrument, welches uns die echte und ehrliche Kontrolle über das Pferd gibt. Der Zügel dient zur Führung des Pferdes in der Horizontalen und Vertikalen. Er dient als Hilfsmittel die Gleichgewichtssituation des Pferdes zu verbessern. Das dauert manchmal, aber mit Geduld wird der Moment kommen, an dem das Pferd reell an den Zügel heranzieht, sich hebt und dadurch natürlich formt – und dieses Gefühl entschädigt für die Blicke und dummen Bemerkungen! Versprochen!!

Also Fazit für heute: „RR“ als Grundprinzip ist weit verbreitet und trotzdem falsch! Oder wie Herr Kurd Albrecht von Ziegner herrlich trocken auf einem Seminar, gefragt nach der optimalen Kopf- Halsposition des Pferdes, antwortete: „Kümmert Euch nicht soviel um den Kopf Eurer Pferde. Bringt die Hinterhand in Ordnung, dann kommt über die Anlehnung der Kopf von ganz alleine in die richtige Position“ Dem ist nichts hinzuzufügen, vielen Dank!!

Comments

  1. Pitti vom Deister meint

    Wieder mal ein schöner Text, wie die anderen übrigens auch.

    Der Umgang mit dem Pferd bringt für viele Reiter (oder die, die vom Rumgurken zum tatsächlichem Reiten, mit kleinen Schritten auf dem Weg dorthin sind) oft eine ganze Lebensphilosophie mit sich, die vor allem auch voraussetzt, dass der Reiter stän-dig an sich selbst arbeitet.

    Und da haben wir auch schon eins der vielen Probleme, mit denen wir täglich konfrontiert sind „an sich selbst arbeiten“. Der Satz „an sich selbst arbeiten“ beinhaltet „Reflextion“. Für viele heute ein Fremdwort und weitestgehend aus dem täglichem Handeln weggezüchtet. Bedeuten tut es: über sein Tun und Handeln nachdenken und wenn es gut läuft, es dementsprechend positiv verbessern (geht auch mit Videoaufnahmen beim Reiten). Manchmal tut es not, dass man sein Handeln mit jemand anderen reflektiert und da hat man vielleicht das nächste Problem: mit wem? Manche s.g. Reiter (hier sind nicht alle mit gemeint) wissen oft gar nicht wovon man spricht, weil sie z.B. in der Praxis gar nicht wissen was Anlehnung bedeutet, geschweige denn den Unterschied vom Rücken- oder Schenkelgänger kennen (übrigens: mit Reiter sind auch Trainer ect. gemeint, die wissen es auch oft nicht oder wissen es – vielleicht- können es aber nicht vermitteln).
    Und das andere „an sich selber arbeiten-Problem“: der Reiter muskulär an sich selber auch. D.h. auch er muss an seiner defizitären Muskulatur arbeiten (ist so, jeder hat irgendwo was. Durch Nichtstun wird die eigene Muskulatur nicht besser bezügl. z.B. schief auf dem Pferd sitzen ect.). Hierzu wird er wohl nicht drum herumkommen sich professionelle Hilfe zu suchen (ich weiß, nicht ganz so einfach. Aber es gibt sie). Jeder der täglich seine „Übungen“ brav und am besten vor dem Reiten durchzieht, weiß wovon ich hier schreibe. In diesem Sinne: immer schön geschmeidig bleiben oder werden.

  2. Rubbert,Manja meint

    Ich musste mich als Reitbeteiligung von dem Pferd und der Besitzerin,die über 30 Jahre reitet,trennen,weil sie schwitzend vom Pferd stieg und meinte,so.muss es sein,wenn man etwas erreichen möchte. Ich habe so ganz andere Erfahrungen gemacht. Nach einer ausgiebigen Schrittrunde im Wald ging ich auf den Reitplatz und ….es war dieses Gefühl,das Anlehnung heisst,so muss das Gefühl sein dachte ich. Alles war so einfach und die gefühlvolle Verbindung zum Pferdemaul ….ein Traum.Schöner Artikel,der es auf den Punkt bringt:Gefühl und Gefuld ist so unheimlich wichtig beim Reiten und Kraft völlig fehl am Platz.

  3. Holger Wesselmann meint

    Lieber Jörg,
    ich selber bin zwar kein Reiter sondern Pferdezüchter,war aber schon mehrere Male auf einem Deiner Seminare bei der Landwirtschaftskammer in Futterkamp.Dabei konnte ich sehr viele Dinge über die Anatomie und Biomechanik der Pferde lernen .Ebenfalls konnte ich bei vielen Reitstunden die Du als Reitlehrer zelebriert hast, dabei sein. Hierbei konnte ich immer einen respektvollen Umgang, vor allem mit dem Partner Pferd, beobachten. Das ist mir in der Vergangenheit in dieser Form noch nicht begegnet. Deine Ausführungen in Deinem Artikel kann ich aus meinen Beobachtungen vieler so genannter Reiter und gruseliger Reitlehrer zu 200 % bestätigen.
    Das größte Problem ist, denke ich, die fehlende Selbstreflektion und Quälfähigkeit der Reiter/ Reitlehrer. Ich als Züchter habe natürlich ein riesiges Intresse an der sachgerechten Aufzucht und Ausbildung der Pferde, damit sich der Partner Pferd lange gesund reiten lassen kann. Gerne möchte ich Dich dazu ermuntern, weiter Deinen Weg zu gehen ,damit zumindest einem Teil der Pferde und Reiter eine wirklich sachgerechte Ausbildung zuteil wird.
    Mit großem Respekt und vielen Grüßen
    Holger Wesselmann

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